nordamerikanische Literatur: Amerikas andere Stimmen - Die Kehrseite des Erfolgs

nordamerikanische Literatur: Amerikas andere Stimmen - Die Kehrseite des Erfolgs
nordamerikanische Literatur: Amerikas andere Stimmen - Die Kehrseite des Erfolgs
 
Der Aufstieg der Vereinigten Staaten geschah zum guten Teil um den Preis der Zerstörung der gefeierten Natur, der Unterjochung, Vertreibung oder gar Vernichtung der Bevölkerung hinzugewonnener Gebiete (Indianer, Mexikaner, Philippinos und andere), der Sklaverei und eines die Nation traumatisierenden Bürgerkriegs; weitere Schattenseiten waren die Verelendung der Einwanderermassen und die Ungleichbehandlung der Frauen. Viele der Autoren des 19. Jahrhunderts thematisierten in ihren Werken diese Negativerscheinungen. Cooper prangert die Umweltzerstörung an, Hawthorne die Wissenschafts- und Technikgläubigkeit, Melville soziale Ungerechtigkeit und Unterdrückung fremder Kulturen im Gefolge der Expansion. In Mark Twains antiutopischem Roman »Ein Yankee aus Connecticut an König Artus' Hof« (1889) verkehrt sich die Feier des Fortschritts in Verzweiflung über dessen soziale und kulturelle Kosten. Die realistischen Romane von William Dean Howells und anderen zeigen die moralischen Folgen der von Verdrängungswettbewerb und Korruption geprägten Gründerjahre im letzten Jahrhundertdrittel auf.
 
Vor allem aber engagierten sich Autorinnen für Reformen - nicht nur in eigener Sache. Coopers Zeitgenossin Catharine Maria Sedgwick legte mit »Hope Leslie« (1827) einen nicht minder bedeutenden historischen Roman über den Konflikt von Weiß und Rot vor; er lässt jedoch nicht nur die indianische Seite gleichberechtigter zu Wort kommen, sondern deutet in Gestalt der Frauenfiguren auch Alternativen zum puritanischen Patriarchat an. Margaret Fullers »Woman in the Nineteenth Century« (Die Frau im 19. Jahrhundert, 1845) definiert Geschlecht als soziales Konstrukt und weist damit auf feministische Positionen der Zukunft voraus. Elizabeth Stoddards Entwicklungsroman »The Morgesons« (1862), der die Wende vom romantischen zum realistischen Erzählen vorwegnimmt, schildert eindrucksvoll, wie begrenzt die Existenz selbst einer nach Emanzipation strebenden jungen Frau in einer Welt aus Familie und sozialen Konventionen war. Und Kate Chopins lakonische Kurzgeschichten sowie ihr Roman »Das Erwachen« (1899), der zu einem der Vorläufer der feministischen Literatur wurde, stellen weibliche Sexualität und Unabhängigkeitsbedürfnisse brillant und schockierend offen dar.
 
Der an Verkaufszahlen und an politischer Resonanz erfolgreichste Roman des Jahrhunderts war indessen Harriet Beecher Stowes »Onkel Toms Hütte« (1852). Stowe prangert das Übel der Sklaverei an, indem sie einerseits - auf die Erzählmuster des sentimentalen Romans zurückgreifend - aufzeigt, wie der Sklavenverkauf eine der Zentralinstitutionen der Gesellschaft zerstört, nämlich Ehe und Familie, und andererseits die Sklaven in Gestalt des Titelhelden als die besseren. Christen darstellt. Auch die Schwarzen selbst meldeten sich nun mit den ersten eindrucksvollen Texten zu Wort, vor allem den autobiographischen Berichten von ehemaligen Sklaven wie Frederick Douglass (1845) und Harriet Ann Jacobs (1861), die auch die sexuelle Ausbeutung der Sklavinnen thematisierte.
 
Literatur im bisherigen Sinn war, unbeschadet ihres ästhetischen oder ethischen Anspruchs, ein Bestandteil der bürgerlichen Kultur. Mit der Unterschicht traf man sich am ehesten im Theater, das während des gesamten 19. Jahrhunderts kein Musentempel, sondern ein rein kommerzielles Unterhaltungsgeschäft war, in dem das Melodrama dominierte und anspruchsvolle Stücke kaum eine Chance hatten. Als Gelegenheit zur imaginativen Flucht aus der Misere der Arbeiterslums und Einwanderergettos, der Kinderarbeit und Hungerprostitution stellteStephen Crane das Theater in seinem Kurzroman »Maggie, das Straßenkind« (1893) dar; darin schildert er den Niedergang der Titelfigur mit grimmiger Lakonik als unausweichliche Folge der gesellschaftlichen Zustände. Das Werk markierte den Anfang der bedeutenden naturalistischen Literatur Amerikas. Die Kehrseite von Verstädterung und Industrialisierung, das Elend und die geistig-kulturelle Verarmung der Fabrikarbeiter hatte bereits 1861 Rebecca Harding Davis in ihrer Erzählung »Life in the Iron Mills« (Leben im Eisenwerk) in krassen Bildern gezeichnet. Nur wenige Jahre nach Craneist für den jungen Theodore Dreiser in dem Roman »Schwester Carrie« (1900) das Theater dagegen Instrument des sozialen und ökonomischen Aufstiegs der Titelgestalt, einer jungen Farmerstochter, die im Chicago der ersten Kaufhäuser und Wolkenkratzer sowie in New York ihren Lebenselan, aber auch den Marktwert ihres Körpers für eine Karriere im Showgeschäft einsetzt. Die Verbindung von Kultur und Kommerz erscheint hier als Teil des Fortschritts und weist den Weg ins 20., ins »amerikanische« Jahrhundert.
 
Prof. Dr. Helmbrecht Breinig
 
 
Amerikanische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hubert Zapf. Stuttgart u. a. 1997.
 Fluck, Winfried: Inszenierte Wirklichkeit. Der amerikanische Realismus 1865—1900. München 1992.
 Schirmer, Walter F.: Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur. 2 Bände. Tübingen 61983.

Universal-Lexikon. 2012.

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